7 verfassungsrechtliche/verfassungspolitische Thesen zur aktuellen Corona-Krise

1. Es kann keinen Zweifel geben, dass wir es bei Corona mit einer weltweiten Pandemie zu tun haben. Das Virus als solches ist identifiziert; seine Auswirkungen auf den menschlichen Organismus sind noch nicht abschließend erforscht. Sie betreffen aber, wie man inzwischen weiß, nicht nur etwa die Lunge, sondern können auch weitere Organe oder gar das Gehirn schädigen, bis hin zu einem Multiorganversagen. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit und die Todesrate sind erschreckend, wie die Verhältnisse zunächst in Italien, Spanien und Frank-reich sowie inzwischen vor allem in den USA, in Großbritannien und in Russland zeigen.

2. In Deutschland ist auf die Pandemie vergleichsweise frühzeitig mit umfangreichen Tests und erheblichen Einschränkungen („Kontaktverbot“) auf der Grundlage des Infektionsschutz-gesetzes des Bundes und der einschlägigen Corona-Verordnungen der Landesregierungen reagiert worden. Das hat zu einer deutlichen Verringerung der Reproduktionsrate/-zahl so-wie dazu geführt, dass es speziell in den Krankenhäusern nicht zu einem „Corona-Notstand“ gekommen ist, zumal insoweit zusätzliche Kapazitäten geschaffen worden sind. Dieses mit dem Argument infrage zu stellen, dass man jetzt nicht schlechter dastehe als Mitte März 2020, als die entsprechenden Maßnahmen in Kraft gesetzt wurden, ist lebensfremd, wie die Verhältnisse in den Ländern zeigen, in denen die Pandemie zunächst geleugnet und dann viel zu spät Gegen- und Vorsorgemaßnahmen ergriffen worden.

3. Im weiteren Verlauf, d.h. nach etwa 4-6 Wochen, sind in Deutschland nicht nur einzelne Maßnahmen der Behörden, sondern auch Teile der einschlägigen Verordnungen wegen der damit verbundenen Einschränkungen insbesondere der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), der Religionsfreiheit (Art. 4 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und des Rechts auf Freizügigkeit (Art. 11 GG) als unverhältnismäßig beanstandet und zum Gegen-stand diverser Verfahren vor den Verwaltungs- und Verfassungsgerichten gemacht worden. Die daraufhin ergangenen Gerichtsentscheidungen haben tendenziell zu einer deutlichen Reduzierung der zunächst verfügten Beschränkungen, speziell auch zu wiederholten Modifikati-onen der einschlägigen Corona-Verordnungen, geführt und führen weiterhin dazu.

4. Die Politik, d.h. sowohl die Legislative als auch die Exekutive, hat in Deutschland auf die Auswirkungen der von ihr verfügten Beschränkungen mit diversen (finanziellen) Hilfspro-grammen reagiert. Sie hat außerdem schrittweise, nach Abwägung mit den Interessen der Wirtschaft, der Arbeitsplätze, der schulischen und universitären Ausbildung, der Kinderbe-treuung, der Existenzsicherung usw. einerseits sowie mit Blick auf die Abschwächung und unterschiedliche Verbreitung des Virus andererseits, Lockerungen zugelassen, deren Auswir-kungen allerdings noch nicht abzusehen sind. Eine zweite „Corona-Welle“ bleibt nach aller Erfahrung, die man bisher mit entsprechenden Infektionen gemacht hat, eine realistische Perspektive. Deshalb gilt weiterhin, dass man bestrebt ist und bestrebt sein muss, die Situa-tion, auch und gerade in den Krankenhäusern, solange „in der Schwebe“ bzw. (so Kanzlerin Merkel) in einem „fragilen Gleichgewicht“ zu halten, bis Medikamente und bestenfalls ein Impfstoff gegen Corona zur Verfügung stehen.

5. Dass auch und gerade Grundrechte Einschränkungen unterworfen werden können, ist eine Binsenweisheit und ergibt sich im Übrigen aus dem (Grund-)Gesetz selbst. Die Zahl einschlägiger (Verfassungs-) Gerichtsentscheidungen, bei denen es um Art und Maß solcher Einschränkungen geht, ist Legion; nichts anderes gilt für die einschlägige Kommentarliteratur. Es ist ein Vorzug unserer rechtsstaatlichen Kultur und – inzwischen – Tradition, dass gerichtliche und wissenschaftliche Auseinandersetzungen hierüber ohne Einschränkungen geführt werden können und dass sowohl Legislative als auch Exekutive hierauf reagieren. Das belegen nicht nur die zahlreichen Gerichtsentscheidungen, die konkret zu den Einschränkungen aufgrund der Pandemie inzwischen ergangen sind, sondern auch die bereits angesprochenen Fortschreibungen der Corona- bzw. Infektionschutzmaßnahmenverordnungen der Länder; und das wird auch auf der Grundlage der mit der Pandemie gemachten Erfahrungen auch zu Präzisierungen und Differenzierungen der aktuell noch sehr weit gefassten Ermächtigungen im Infektionsschutzgesetz des Bundes führen müssen.

6. Es gehört zur Realität, dass die Politik oder, genauer gesagt, dass einzelne (Spitzen-) Politiker in Deutschland versuchen oder versucht haben, sich mit Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie einerseits und zur Wiederbelebung der Wirtschaft andererseits zu profilieren.
Dass sie dabei nicht immer eine gute Figur gemacht haben oder unzureichend beraten worden sind, lässt jedoch nicht den Schluss darauf zu, dass sie allein aus Ignoranz, Machtstreben oder etwa im Blick auf ihre Wiederwahl gehandelt haben. Kritik an einzelnen Maßnahmen ist allemal angebracht; Schmähung oder intellektuelle Herablassung jedoch nicht. Speziell auch die Medien legen entsprechende Tendenzen oder Versäumnisse schonungslos offen und gemahnen die Politiker an die ihnen gerade in dieser Situation abverlangte „Verantwortungsethik“ (Max Weber).

7. Das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber der oder einer Pandemie, wie sie die Welt seit mehr als 100 Jahren nicht mehr erlebt hat, befördert Verschwörungstheorien und maßlose Kritik. Demgegenüber ist jedoch jedenfalls für Deutschland festzustellen: Das Infektionsschutzgesetz des Bundes ist bisher nicht generell als „Ermächtigungsgesetz“ für die „Machtergreifung“ der Exekutive missbraucht worden, selbst wenn dies von extremistischen Kreisen offensiv vertreten wird. Wer sich die Verhältnisse in Ungarn anschaut, wo die Coronakrise zum Anlass für die Ausschaltung des Parlaments genommen worden ist, oder in Polen, wo deswegen versucht wurde, die Wahl des Staatspräsidenten zu manipulieren, erkennt ohne weiteres die Maßlosigkeit der Vorwürfe, die in Deutschland bei entsprechenden Demonstrationen teilweise gegenüber der Exekutive erhoben werden.

C. K./14.05.2020